Branntweinstadt Sendenhorst
Im Bewußtsein der Nachbarn, aber auch im Selbstverständnis der Bürger galt Sendenhorst lange Zeit als die Stadt der Brennereien, als die Heimat des Münsterländer Korns. In der Tat, die große Zahl der hochaufragenden, rauchenden Kamine prägte lange Zeit neben Krankenhaus- und Pfarrkirchturm die Silhouette der Stadt. Der intensiv-süßliche Geruch von Maische und Schlempe lagerte sich satt und schwer in den Straßen, zwischen den Häusern. In den Stallungen der Brenner stand das Mastvieh. Ganz Sendenhorst schien vom Branntwein zu leben. Die Stadtbeschreibungen von Pfarrer Kumann (1820) bis zum »Deutschen Heimatführer 1939« heben die große wirtschaftliche Bedeutung der Branntweinbrennerei und den hohen Bekanntheitsgrad des Sendenhorster Kornbranntweins hervor.
Kumann 1830: Sendenhorst treibt starke Branntweinbrennerei. Im Jahre 1816 wurden über 50.000 Berliner Quart hergestellt 54.
Westf. Heimatführer 1939 (Manuskript): Der Sendenhorster Schnaps, in 13 Brennereien hergestellt, hat als »Sendenhorster Spezialität« weithin einen ausgezeichneten Ruf 55.Die Sendenhorster trieben gezielte Imagepflege, und tatsächlich mag es eine Zeitlang so ausgesehen haben, als wenn Sendenhorsts Wohlstand und Wirtschaftskraft einzig durch den Branntwein begründet werde. Gewiß, die Brenner waren gute Steuerzahler, ihre stattlichen Häuser waren eine Zierde der Stadt. Arbeitsplätze für die wachsende Bevölkerung, für viele hundert arbeitsuchende Sendenhorster, konnten die Brennereien nicht bieten. Immerhin, für die Verbesserung der Infrastruktur, vor allem für gute Wegeverbindungen zu den Nachbarorten, haben sich die Brennereibesitzer tatkräftig eingesetzt. Ohne sie hätte Sendenhorst 412nicht so schnell eine Verbindung zum Bahnhof Drensteinfurt Hamm-Münster bekommen. Die Branntweinproduktion war ein wichtiges Argument für den Ausbau der /Westfälischen Landeseisenbahn von Lippstadt nach Münster. Wie Sendenhorst auf den Branntwein kam und wie sich dieser Gewerbezweig bis zum Markenzeichen der Stadt entwickelte, wollen wir auf einer kleinen Reise durch mehr als 200 Jahre Trinkkultur erkunden. Dabei soll auch die technische Seite der Branntweinerzeugung gestreift werden.
Als Rohstoffbasis dienen stärkemehlhaltige Naturalien wie Kartoffeln, Roggen oder Weizen. Unter hohem Druck eines geschlossenen Gefäßes tritt die Stärke aus. Um aus der aufgeschlossenen Stärke vergärbare Zuckerarten herzustellen, wird meistens gekeimte Gerste eingesetzt (»Vermälzung«). Die gekeimte, zu Brei zerquetschte und mit Wasser vermischte Gerste wird mit der Stärke in einem Bottich zur »Maische« zusammengeführt, die dann in Gärung' und .damit Alkoholbildung
414
versetzt wird. Bei der anschließenden mehrfachen Destillation wird der Alkoholanteil des Destillats schließlich auf 95,57% verstärkt. Der Rückstand, die alkoholfreie »Schlempe«, gilt als ein wertvolles Viehfutter (Bullenmästung). Der Alkohol muß noch von Verunreinigungen (Fuselöl) befreit (rektifiziert) werden. Falls der für industrielle Zwecke verwendbare Rohsprit, der Spiritus, nicht, wie heute meist üblich, an die DKV bzw. Branntweinmonopolverwaltung verkauft wird, muß er in einem weiteren Destillierungsprozeß zu Trinkzwecken veredelt werden.
Die Branntweinbrenner hielten die Augen offen. Sie trachteten danach, ihre Produktionsmethoden ständig zu verbessern. Johan Heinrich Böcker aus Ostbevern, der seit 1791 auf der Oststraße (Gastwirtschaft »Börse«) eine Brennerei betrieb, war in jungen Jahren nach Zeedam in Holland gewandert und hatte von dort das Hefeverfahren mitgebracht 61. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Apparate entwickelt, die die Aufschließung der Stärke und die Gärung effektiver machten. Die Sendenhorster Brennereien benutzten bis 1840/50 einfache Destillierblasen mit einer Kühlvorrichtung. Die Maische wurde in die Blase gefüllt und durch direkte Feuerung erhitzt. Die alkoholartigen Dämpfe kondensierten in dem Kühler. Durch mehrfache Destillation wurde die notwendige Konzentration erreicht.
Seit der Mitte des Jahrhunderts nutzten die Sendenhorster Branntweinbrenner auch die Fortschritte der Technik. Der Zweiblasenapparat erlaubte einen kontinuierlichen Betrieb. 1857 stellte die Brennerei Werring (Elmenhorst) den ersten Dampfkessel auf, wenig später folgten die Brennereien Wieler (heute Volksbank), Neuhaus (südliche Kirchstraße), Everke (nördl. Kirchstraße), Silling (Oststraße) und Böcker (Oststraße, Zur Börse) 62. Zeitgleich mit dem Bau der neugotischen Pfarrkirche begann sich die Silhouette der Stadt durch hoch aufragende Brennereischornsteine zu verändern. Seit 1875 ermöglichten Fortschritte auf dem Gebiet der Brenntechnik die Herstellung verhältnismäßig großer Mengen von Alkohol mit geringerem Personal- und Zeitaufwand, eine Tatsache, die neben den verbesserten Absatzbedingungen auch zur Neugründung von Brennereien reizte. Der »Kreislauf der Schlempewirtschaft« erwies sich auch in Sendenhorst als ein recht leistungsfähiges System:
Die Schlempe enthält noch wertvolle Bestandteile des Rohstoffes wie Eiweiß, Fett und Mineralsalze, sie stellt daher ein nahrhaftes Viehfutter dar, und macht eine Düngerproduktion in größerem Stil möglich. Die Alkoholproduktion fand und findet in den meisten landwirtschaftlichen Betrieben in der Zeit von Oktober bis März statt. Im Frühjahr und Sommer sind die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft bei der Aussaat, Ernte usw. eingesetzt, während sie im Herbst und Winter für die Beschäftigung in der Brennerei frei sind. Die also im Winter anfallende Schlempe erlaubte es den Bauern, den größten Teil des sommerlichen Grünfutters vom Vieh abweiden zu lassen, weil die winterlicheStallfütterung im wesentlichen durch die Schlempe sichergestellt war 63 .
Genaue Nachrichten über die Sendenhorster Branntweinherstellung im 19. Jahrhundert enthalten die Akten der Steuer- und Zollbehörden 64. 1824 führte der preußische Finanzminister eine Maischbottichsteuer ein. Bei jeder Einmaischung waren für je 20 Quart 36 Pfennig an die Zollbehörde zu zahlen: Landwirtschaftliche Brennereien, die nur im Winter brannten, zahlten einen reduzierten Steuersatz 65
416
Die Sendenhorster Betriebe galten ohne Ausnahme als landwirtschaftliche Brennereien ohne Hefebereitung. Im Deutschen Kaiserreich galt ais Voraussetzung für einen reduzierten Maischbottich-Steuersatz (1887 statt 70 Mark 50 Mark), daß nur Kartoffeln oder Getreide gebrannt wurden und die Rückstände, die Schlempe, in der eigenen Wirtschaft verwertet wurden. Auch diese Voraussetzungen trafen für alle Sendenhorster Brennereien zu. Alle acht Jahre wurden die Bottiche amtlich vermessen. Aus den von 1838 bis 1889 lückenlos vorliegenden Berichten der Steuerkontrolle lässt sich das Gründungsjahr der meisten Brennereien schließen, falls nicht Bauanträge, Konzessionsgesuche oder Firmenarchive eine noch genauere zeitliche Festlegung ermöglichen. Der Stammbaum der Sendenhorster Brennereien zeigt, daß die Anzahl der Brennereien und die Produktionsmenge mit der Industrialisierung der Nachbarstädte, vor allem des Ruhrgebiets, Hand in Hand ging. Bezeichnenderweise sorgte sich der unter dem Einfluß der Brennereibesitzer stehende Stadtrat zunächst um den Straßenausbau nach Drensteinfurt, Ahlen und Beckum, dann erst nach Albersloh und Münster.