Beginn der Industrialisierung in Sendenhorst - Mit WLE-Bahnanschluss begann es - wirtschaftliche Entwicklung in Sendenhorst

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der jetzige Kreis Warendorf ziemlich homogen strukturiert. Die Unterschiede zwischen den städtischen und ländlichen Zentren waren nicht sehr erheblich. An der Spitze der wirtschaftlichen Zentralität stand zweifellos Warendorf, gefolgt von den "Mittelzentren" Ahlen, Beckum, Telgte und Oelde. Sendenhorst stand mit Drensteinfurt, Everswinkel und Wadersloh auf einer zehnteiligen Skala zentraler Orte Westfalens auf Platz acht, gefolgt von ...

Maschinenfabrik Ramesloh am Osttor. Fanatsiezeichnung auf einem Firmenbriefkopf 1922. Im Hintergrund die STadt Sendenhorst mit Kirche, Brennereischornsteinen und Windmühle

... Liesborn, Freckenhorst und Stromberg an neunter Stelle. Auch die Einwohnerzahl der Orte des heutigen Kreises Warendorf wies keine ungewöhnlichen Unterschiede auf. Sie schwankte - Zentralort und umliegendes Kirchspiel zusammen genommen - zwischen 6900 (Warendorf) und 1300 (Stromberg). Sendenhorst belegte mit 2200 Einwohnern, davon 800 im Kirchspiel, einen mittleren Platz.

n den folgenden hundert Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 verlief die Entwicklung nicht mehr so einheitlich. Von den zwölf Gemeinden des heutigen Kreises Warendorf wurden Ahlen, Beckum (mit Neubeckum), Oelde und Ennigerloh von der Industrialisierung erfasst. Warendorf beharrte auf dem Platz seiner herausragenden Zentralität. Die übrigen Gemeinden entwickelten sich nur im Rahmen des allgemeinen Bevölkerungswachstums, einige, wie Beeten und Sassenberg stagnierten sogar. Es stellt sich die Frage, warum schafften einige Orte den Einstieg in die Industrialisierung? Warum verharrten andere bis zum Ersten Weltkrieg in ihren ländlich-vorindustriellen Strukturen? Am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung Sendenhorsts sollen einige Faktoren gezeigt werden, die einer Industrialisierung im Wege standen, andere, die sich anboten, aber nicht genutzt wurden.

Die Industrie wendet eine neue Organisationsform der Arbeit an, die - anders als die handwerkliche Produktionsweise - systematisch die technischen Fortschritte nutzt, um unter vermehrten Kapitaleinsatz Güter zu produzieren. Der traditionelle Haupterwerbszweig in Sendenhorst, die Leineweberei, hatte ihren Höhepunkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts überschritten. Als die Preußen das Münsterland 1802 in Besitz nahmen, lebte noch mehr als ein Viertel der Bevölkerung von der Leineweberei. Aber weil es am Ort keine kapitalkräftigen Leinenhändler gab, arbeitete Sendenhorst fast ausschließlich für Warendorfer Leinenkaufleute. Das gab eine gewisse Absatzgarantie, machte aber abhängig und verhinderte den Umstieg auf neue Produktionszweige, wie zum Beispiel auf die Plüschweberei in Ahlen. Die Sendenhorster Leineweber produzierten ausschließlich auf Handwebstühlen in kleinen Familienbetrieben mit höchstens drei Beschäftigten.

Die lang anhaltenden Krisenzeiten des Leinengewerbes überstanden sie erstaunlich gut. Die Zahl der hauptberuflich arbeitenden Weber ging lediglich von 63 (1832) auf 50 (1876) zurück, ein Indiz, daß man der Leineweberei in Sendenhorst weiterhin gute Chancen gab. Der mechanische Webstuhl, der sich seit 1880 endgültig durchsetzte, fand in den Sendenhorster Werkstätten keinen Platz. Man webte wie seit mehr als 200 Jahren auf dem traditionellen Handwebstuhl Ohne Modernisierung ihrer Produktionsverfahren hatten die Leineweber endgültig den Anschluss verpasst. 1911 lebten noch drei Familien von der Leineweberei. Dann war dieser ehrwürdige Handwerkszweig ausgestorben, ohne daß es gelungen wäre, ihn in eine industrielle Fertigung hinüberzuleiten.

Neue, industrielle Herstellungsverfahren waren in hohem Maße von der verkehrsmäßigen Erschließung eines Ortes abhängig. Die Orte an der 1847 in Betrieb genommenen Köln-Mindener Eisenbahn, Ahlen, Oelde und das über eine Stichbahn verbundene Beckum, erhielten von hier entscheidende wirtschaftliche Impulse. Die Einwohnerzahlen von Beckum, Ahlen und Oelde, die im Jahre 1803 mit 1854, 1567 und 1104 nicht erheblich von denen Sendenhorsts (1294) abwichen, verdoppelten sich bis 1875, während Sendenhorst nur einen Zuwachs von 40% verbuchen konnte.

In Sendenhorst erkannte man die Vorteile eines Eisenbahnanschlusses durchaus und verfolgte aufmerksam alle Bahnprojekte, die das Stadtgebiet durchqueren konnten. Bereits 1868 trat die Stadt dem Komitee einer projektierten Eisenbahn Hamm Warendorf-Osnabrück bei. 1872 erklärte die Stadtverordnetenversammlung zustimmend: Der Versammlung wurde vom Vorsitzenden mitgeteilt, wie nunmehr seitens des kgl. Handelsministeriums der Direktion der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft die Ausführung der generellen Vorarbeiten für die Herstellung einer direkten Bahn von Hamm nach Osnabrück gestellt worden. Nach stattgehabter Beratung erklärte Versammlung, daß es für die hiesige Stadt von unberechenbaren Vorteil sei, wenn auch sie von der projektierten Eisenbahnlinie berührt und in ihrer Nähe ein Bahnhof angelegt werde, und wurde daher demnächst beschlossen, eventuell das zur Anlegung des Bahnhofes hier selbst erforderliche Areal unentgeltlich zu beschaffen, sowie alle Kommunal-Grundstücke, soweit solche vom Bahnkörper durchschnitten werden sollten, ohne Entschädigung abzutreten. Zugleich wurde Vorsitzender ersucht, der Direktion der Bergisch-Märkischen Eisenbahn von diesem Beschlusse baldigst Kenntnis zu geben und auf die Bedeutung der hiesigen Stadt hinsichtlich ihrer Lage, sowie der Ein - und Ausfuhr derselben näher hinzuweisen.

Grafik: Sendenhorst, Bevölkerung 1803-1910

Das Komitee tagte fleißig, kam aber über Pläne und Absichtserklärungen nicht hinaus. Sendenhorst blieb bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts vom Eisenbahnnetz ausgespart. Die gegenüber Ahlen, Beckum und Oelde geringen wirtschaftlichen Aussichten der Stadt spiegeln die Einwohnerzahlen wider. Ahlens Bevölkerung wuchs zwischen 1870 und 1900 um 86%, Sendenhorst stagnierte wie alle nicht von der Industrialisierung erfassten Orte des Kreises und veränderte seine Einwohnerzahl in 30 Jahren lediglich um 21 Personen auf 1889. Bis 1870 hatte die Stadt noch von dem Zuzug aus dem Kirchspiel - dessen Bevölkerungszahl stagnierte zwischen 1800 und 1900 bei 800 - und den benachbarten ländlichen Orten profitiert. Der Ort bot zu dieser Zeit Handwerkern und Tagelöhnern eine schmale, halbwegs gesicherte Existenz.

Nach 1871 zogen die industrialisierten Orte vor der Haustür und das nahegelegene rheinisch-westfälische Industriegebiet Arbeitskräfte mit ihren Familien aus der Stadt Sendenhorst und ihrem Umland ab. Die Daheimgebliebenen richteten sich selbstgenügsam ein. Als profitabler Wirtschaftszweig etablierte sich die Kornbrennerei. Die Zahl der Betriebe wuchs zwischen 1870 und 1890 von 11 auf 18. Die Brennereibesitzer stellten mit Gastwirten, Kaufleuten, Apotheker, Arzt und Pfarrer nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht das erste Drittel des Wählerpotentials. Sie setzten die Schwerpunkte der kommunalen Ausgabenpolitik, die sich nicht immer an den Interessen aller Sendenhorster orientierten. Die Kornbrennerei betrieb zwar geschickte Imagepflege (1911: Sendenhorst ist mit seinen 17 Kornbranntwein-Brennereien eine der ältesten Städte in der Herstellung des berühmten Alten Münsterländer Korns im Münsterland), konnte aber keine Arbeitsplätze schaffen. Von ihr gingen langfristig keine wirtschaftlichen Impulse aus.

Sendenhorst verharrte in seiner scheinbar idyllischen ländlichen Harmonie, überschattet von dem ungelösten Problem gesicherter Arbeitsplätze. Von 468 männlichen Erwachsenen gaben 1876 als Beruf an: Tagelöhner 117, Weber 50, Steinhauer 29, und Maurer 33. Die Maurer und Steinhauer hatten in der Regel keine qualifizierte Ausbildung. Sie arbeiteten gewöhnlich außerhalb des Ortes, vor a allem in Münster, wo sie ihren Anteil am Aufbau der Provinzialhauptstadt leisteten. Die Zahl der Sendenhorster Maurer stieg bis 1911 auf 73.

Wie die Statistik zeigt, hatte die Hälfte der Sendenhorster Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kein gesichertes Einkommen, stand immer wieder vor kaum lösbaren Existenzsorgen. Aber anders als im Vormärz (der Zeit vor der Märzrevolution 1848) rebellierte die Bevölkerung nicht. Wer nicht abwanderte, richtete sich auf niedrigem Niveau ein. Der Garten vor der Stadt, die Kuh und das Schwein im Stall halfen leidlich über die Runden. In den turbulenten Revolutionsjahren 1848/49 war eine gewaltbereite Masse noch von der oppositionellen Stadtvertretung gestützt worden. Nach 1871 hatte man sich mit dem preußischen Staat arrangiert. Patriotismus war angesagt. Die führenden Schichten machten es vor, und nach und nach folgten die übrigem dem Beispiel. Man war weiterhin arm, hatte
aber jetzt einen Kaiser, der die Franzosen besiegt hatte und auf den man stolz sein
durfte.

Grafik: Bevölkerungsdichte im Kreis Warendorf - Zunahme 1818 =100 - bis 1961 in [%]

Ein wenig profitierte Sendenhorst auch vom wirtschaftlichen Aufschwung im Deutschen Reich. Aber die Lage blieb unsicher, weil eine stabile Basis fehlte, Arbeitsplätze in Fabriken am Ort oder die Möglichkeit, durch die Eisenbahn solche Arbeitsplätze in Nachbarorten täglich anzufahren. Erst gegen Ende des Jahrhunderts nahmen die Pläne einer Eisenbahn für Sendenhorst greifbare Gestalt an.
1891 hatte sich ein Geschäftsausschuß für eine direkte Voll - und Kanalzubringerbahn Münster-Beckum-Lippstadt als Theilstrecke einer abkürzenden Bahn CasseiMünster-
Emmerich etabliert.
1895 beschloss die Stadt Sendenhorst, Grund und Boden für eine vollspurige Nebenbahn von Beckum nach Münster über Hiltrup mit einer Abzweigung Albersloh-Wolbeck-Münster bereitzustellen. Der Güterverkehr für Sendenhorst wurde mit jährlich 100 Doppelwagen Kohlen zu Brennereizwecken und 300 Doppelwagen mit Brennereiprodukten veranschlagt. Für den Personenverkehr rechnete man allein im Sonntagsverkehr nach Wolbeck-Münster
mit 10.000 Fahrgästen im Jahr. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten erteilte die Genehmigung, die interessierten Gemeinden stellten Grund, Boden und Kapital bereit.
Am 30. September 1903 konnte die neue Strecke der Westfälischen Landeseisenbahn zwischen Neubeckum und Münster in Betrieb genommen werden.

Für Sendenhorst bedeutete der Anschluss an das Eisenbahnnetz zweierlei: Als Pendler fanden viele Männer und Frauen Arbeit in der Provinzialhauptstadt Münster, aber auch in anderen mit der Eisenbahn erreichbaren Nachbarorten. Ein Bahnanschluss war vor allem ein Anreiz für die Ansiedlung von Industriebetrieben.
Bereits in der Planungsphase der WLE, im Jahre 1898, gründete Hermann Ramesohl (1854 - 1927) das erste Industrieunternehmen vor dem Osttor, ein Zweigbetrieb der Oelder Zentrifugenfabrik Ramesohl. Im folgenden Jahr berichtete Bürgermeister Hetkamp an die Regierung : Die Centrifugenfabrik hat allem Anschein nach guten Absatz. Dieselbe hat bereits Aufträge gehabt zum Ausland, nach Holland und America. Die Fabrik beschäftigte bis zu 20 Arbeiter. Im Ersten Weltkrieg wurden statt Zentrifugen Granaten produziert.
1929 belieferte die Maschinenfabrik Raco (Ramesohl & Co) laut Briefkopf die Landwirtschaft mit Handablagen für Mähmaschinen, Strohschneider mit Schnitthalter, Futterschneidemaschinen, Rübenschneider Marke Sperber und Separatoren.
Auf 3 ha ehemaligem Pastoratsgrund wurden im April 1910 nördlich der WLE an der Hoetmarer Straße der Grundstein für die Fabrikgebäude der Stanz- und Emaillierwerke Sendenhorst gelegt. Die Firma beschäftigte vor dem Ersten Weltkrieg durchschnittlich 80 Arbeiter, wurde 1918 vom Emaillierwerk Raestrup und Krone in Oelde übernommen, stellte aber wenig später die Produktion ein. Der 58 m hohe Fabrikschornstein wurde 1936 gesprengt.
Südlich der Straße nach Beckum, auf dem Grundstück Osttor 376, nahm die Schraubenfabrik Alfred Voß & Co. 1921 die Produktion mit 8 Beschäftigten auf, mußte aber auch 1926 ihren Betrieb einstellen. Schließlich sei noch die Firma Wieler Brückmann erwähnt. Die 1910 von der Oststraße (Ecke Südgraben, heute Peiler) vor das Osttor verlegte Brauerei gehörte im engeren Sinne zwar nicht zu den Industriebetrieben, aber sie spielte für den Ausbau der Infrastruktur in der Stadt Sendenhorst eine wichtige Rolle.
Nachdem das St.-Josef-Stift zu Weihnachten 1906 ein Maschinenhaus, Dampfheizung und elektrisches Licht erhalten hatte, gingen im folgenden Jahr die ersten Sendenhorster Haushalte und Betriebe an das Netz. Der von der Brauerei Wieler erzeugte Strom wurde über Außenleitungen zu den Häusern längs der Ost- und Weststraße geführt.
Die Schulchronik berichtet: Im Dezember 1908 begann man mit der elektrischen Lichtanlage im Schulgebäude (an der Schulstraße). Am Abend des 16. Dezember brannte es zum ersten Mal in der Dienstwohnung des Hauptlehrers. 1918 belieferte Wieler 24, meist handwerkliche Betriebe, mit Kraftstrom. Als das Elektrizitätswerk Wieler um 1925 seinen Betrieb einstellte, übernahm die Überlandzentrale die Sendenhorster Stromversorgung. In den Räumen der ehemaligen Brauerei etablierte sich das Stanz- und Hammerwerk Alfes & Brückmann, seit 1927 Nübell & Alfes, Metallwarenfabrik

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bedeuteten das Aus für die Sendenhorster Industriebetriebe. Die ersten Schritte in die Industrialisierung waren spät, erst um die Jahrhundertwende erfolgt. Die Industrie hatte rund hundert neue Arbeitsplätze geschaffen, viel für eine ländliche Kleinstadt, aber nicht soviel, daß ein stärkerer Zuzug von außen erfolgte. Nicht ohne Stolz urteilt deshalb Stadtsekretär Kleinhans 1929: Die Einwohnerschaft ... ist sesshaft und von fremden Zuzüglern wenig durchsetzt. Die Einwohnerzahl war fast ganz stabil. Als nach 30 Jahren der letzte Industriebetrieb seine Tore Schloss, war die erste Phase der Industrialisierung für Sendenhorst vorbei.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu dauerhafteren Betriebsgründungen, zum Teil als Filialbetriebe größerer auswärtiger Unternehmen, zum Teil als eigenständige Unternehmen, wobei sich seit den 60er Jahren die Kunststoffindustrie als umsatzstärkster, größter Arbeitgeber entwickelte. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Quellen und Literatur:
Stadtarchiv Sendenhorst, u. a. Bestand A. 582, 765, Bestand B, IV. Protokolle der Stadtverordnetenversammlungen.
Staatsarchiv iv Münster, Spez. Org. Kommission Münster 99, 100
Hans H. Blotvogel. Zentrale Orte und Raumbeziehungen in Westfalen vor der Industrialisierung, Münster 1975.
Gustav Schmoller, Die Entwicklung und die Krisis der deutschen Weberei im 19. Jahrhundert, Berlin 1893.
Landschaftsverband Westfalen-Lippe - Geographisehe Kommission für Westfalen (Hg}, Geographisch landeskundlicher Atlas von Westfalen, Münster
1985.
Heinrich Petzmeyer, Sendenhorst, Geschichte einer Kleinstadt im Münsterland, Sendenhorst 1993.

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