Sozialer Wohnungsbau vor 200 Jahren - Geschlossenes Vorstadtviertel auf dem Bült

Das Landstädtchen Sendenhorst erhielt lange Zeit seine aus dem Mittelalter überkommenen Strukturen und Wertvorstellungen. Dazu gehörte eine Grundvorsorge fiir Nahrung und Behausung. Die Stadtgärten und die städtische Weide vor dem Osttor stand allen Bürgern gegen geringe Pacht offen. Für den Wohnungsbau, vor allen der unteren Schichten, stellten Stadt und Kirche Erbpachtgrundstücke zu günstigen Bedingungen bereit.

Bis 1800 war nur etwa die Hälfte der rund 250 Hausplätze innerhalb der Umwallung im freien Eigentum, die andere Hälfte wurde auf ein Leben lang vergeben, von der Stadt vor allem entlang des Stadtgrabens, von Pastor, Vikar und Kirche verteilt über die ganze Stadt. Offensichtlich hatten die Bürger einen eingeschränkteren privaten Eigentumsbegriff als heute. Grund und Boden waren unveräußerliches Eigentum der Stadt- oder Kirchengemeinde, wurde nur auf Lebenszeit geliehen und nur in Notzeiten - z. B. 1653, nach dem 30jährigen Krieg - trennte sich die Stadt von einigen Gartengrundstücken und verkaufte sie.

Die Vergabe eines Hausplatzes durch den Rat wurde 1800 so protokolliert: Erschien vor versammelten Rat Elisabeth Rotman, Bürgertochter dahier und zeigte an, daß sie sich unlängst mit dem Bürger Martin Krey verheiratet hätte und bat, das am Nordgraben auf Stadtsgrund mit ihrem Mann überkommene Haus und dazugehörigen Grund auf ihr Leben lang gewinnen zu lassen, welches unter den gewöhnlichen Bedingungen dazu angenommen und zahlt für solchen lebenslangen Gewinn 21 Schilling.

In der französischen Zeit 1806-1813 ging die Stadt von dem bewährtem lebenslangem Erbbaurecht ab. Der Zeitgeist verlangte Freiheit, Liberalismus, Ungebundenheit. Ähnlich wie die Bauern im umliegenden Kirchspiel ihre Höfe, so konnten auch die Handwerker, Weber und Tagelöhner auf den Grabenstraßen ihre Hausgrundstücke für die 25-fache Jahrespacht kaufen. So trennte sich die Stadt von wertvollen Grundstucken, verlor Einfluß und Kontrolle an den freien Markt. Trotzdem konnte die Stadt Sendenhorst ihren bauwilligen Bürgern noch eine ganze Weile helfen.

Zwischen 1810 und 1840 verkaufte sie zu einem moderaten Preis ihre unbebauten Parzellen an der Neustraße an den Gräben, wo es besonders am Nordgraben noch zahlreiche Freiflächen gab. Dann ging der Grundstücksvorrat der Stadt unwiderruflich zu Ende. Wer jetzt bauen wollte, mußte von Privaten kaufen und erheblich tiefer in die Tasche greifen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts blieb die alte Stadt innerhalb der Gräben bevorzugtes Baugebiet. Nur zögernd, beinahe widerstrebend zogen die Bauwilligen vor die Tore der Stadt in die Feldmark. Den Anfang soll Tischler Bartmann gemacht haben, der - laut Hausinschrift - 1825 sein Haus vor das Osttor an den Stadtgraben setzte. Es folgten die Müller, die vor den vier Toren ihre charakteristischen Bockwindmühlen zimmern ließen und dabei ihr Wohnhaus errichteten.

Vor dem Osttor wohnte Müller Stricker (Wohnhaus vor 1830), vor dem Westtor Müller Wößmann (1854), vor dem Südtor Müller Bröckelmann (1856). Seit 1850 entwickelte sich die Landstraße nach Albersloh-Münster bis zur Pennigstiege vor dem späteren Krankenhaus zu einem bevorzugten Baugebiet Als die Stadt keine preisgünstigen Baugrundstücke mehr zu vergeben hatte, sprang die Kirche ein. Zwischen 1860 und 1870 verkaufte Vikar Meinert, Inhaber der Katharinenvikarie, zu günstigen Bedingungen vor dem Westtor auf dem sogenannten "Twiesack" etwa 15 Baugrundstücke, jede ~ 400 – 500qm groß.

Bauzeichnungen des Hauses Bücker aus dem Jahre 1852

So entstand am Wege zu Neuhaus' Mühle auf dem Bült ein kleines geschlossenes Vorstadtviertel. da der Volksmund, wohl in Entsprechung zu der einst selbständigen Münstersehen Vorstadt "Mauritz" nannte. Während des gesamten 19. Jahrhunderts wurde die Bebauung innerhalb der alten Befestigungsgräben verdichtet. Wo es nur irgendwie möglich wurden Grundstücke geteilt, Gärten in Bauland umgewandelt und selbst handtuchschmale Baulücken ausgefüllt.

Gegen Ende des Jahrhunderts bildeten sich an den Landstraßen nach Beckum und Hoetmar zwei weitere Siedlungsschwerpunkte heraus. Alle Neubauten benutzten bereits vorhandene Erschließungsanlagen, Chausseen, Bauerschaftswege oder Feldwege. Die Planung und Realisierung geschlossener Neubaugebiete auf der grünen Wiese mit völlig neuen Erschließungsstraßen lernte Sendenhorst erst nach dem zweiten Weltkrieg kennen, in einer Zeit, in der die Finanzen offensichtlich eine nachgeordnete Rolle spielen.

Vom Querdielenhaus zum Massivbau Auch in der guten alten Zeit kannte man Bauanträge , Genehmigungsverfahren, Auflagen. Eine preußische Regierungsverfugung von 1817 gab den landrätlichen Behörden die Ermächtigung, "Bauerlaubnisse fur neue Bauten zu erteilen“. Ein Jahr später versuchte die Regierung, auf die äußere Gestaltung der Häuser einzuwirken durch eine "Verordnung wegen der bei Neubauten und Hausreparaturen zu vermeidenden oder wegzuschaffenden Verunstaltungen ... ". Zu dieser Zeit galten Giebelhäuser als unschön. Landrat von Merveldt versuchte 1828, den Neubau des Zimmermeisters Brandhove an der Nordstraße durch Überredungsarbeit des Bürgermeisters nach seinen ästhetischen Vorstellungen zu beeinflussen. Aus dem landrätlichen Schreiben:

Den beabsichtigten häßlichen Giebelbau in der Straße ... haben Sie, Herr Bürgermeister, daher den Versuch zu machen, nochmals in Güte zu erin nern, dem Haus eine gefälligere Front zu geben und erscheint, als würde Brandhove nachgeben, wenn Sie ihm eine bessere Gestaltung anschaulich machten. Der Neubau Brandhove blieb einer der wenigen Fälle, bei denen die Genehmigungsbehörde eine Änderung des Bauplanes verlangte. Beinahe alle anderen Bauanträge wurden vom Bürgermeister - allein oder nach Rücksprache mit den Stadtverordneten großzügig toleriert und empfehlend nach Beckum weitergeleitet.

Die Neubauer waren gewöhnlich junge Handwerker oder Tagelöhner mit schmalem Geldbeutel. Wie bei den meisten Sendenborster Familien waren Landwirtschaft und Viehhaltung fur den Lebensunterhalt unverzichtbar. Diese zahlenmäßig stärkste soziale Schicht bevorzugte einen bestimmten Haustyp, das Querdielenhaus, ein traunständiges Steinfachwerkgebäude. Gewöhnlich waren zwei Drittel des Hauses Wohnräume, ein Drittel landwirtschaftliche Nutzfläche, Kuh- oder Schweinestall, Deele oder Diele mit zweiflügligem Tor. Der Wohnbereich umfaßte vier Räume im Quadrat, alle nicht mehr als 10 - 12 m2 groß, als Schlafkammern oder Stube ausgewiesen.
Mittelpunkt des Hauses war die kleine Küche mit ausladendem, offenen Kamin, einzige Wärmequelle des Hauses und im Winter von der ganzen Familie umlagert.

An der Decke der Küche war so hoch wie in der Diele gezogen, die übrigen Zimmer waren niedrig. Oft befanden sich darüber weitere niedrige Schlafkammern, die Upkammern. Der Baustil dieser Querdielenhäuser war zeitlos, funktionell. Vergeblich sucht man nach modischen Zugeständnissen an den Zeitgeschmack. Die meisten Sendenborster Haushalte, aber doch nicht alle, hielten Kühe und Schweine. Wer auf Landwirtschaft von vorneherein verzichtete oder die Viehhaltung später aufgab, benötigte keine Ställe. So veränderte sich der Hausgrundriß. Das große Deelentor wurde entbehrlich. Statt der Ställe wurden Werkstatträume eingerichtet, eine Waschküche, mehr Stuben und Kammern.
Die ersten reinen Wohngebäude aus Ziegelmauerwerk entstanden. Keines dieser schlichten Fachwerkhäuser ist in seiner alten Form erhalten geblieben.

Viele wurden bereits vor Jahrzehnten abgerissen und durch einen zeitgemäßeren Neubau ersetzt. Einige wurden im Zuge der Stadtsanierung 1970- 1980 beseitigt. Die wenigen Handwerkerhäuser, die nicht abgerissen wurden, durchliefen einen hundertjährigen Anpassungs- und Modernisierungsprozeß, der nicht viel vor der ursprünglichen Bausubstanz übrig ließ. Da das Wohnhaus als ein Gebrauchsgegenstand und nicht als geschütztes Denkmal verstanden wurde, wurde zu allen Zeiten umgebaut, abgerissen und verändert. Die Modernisierungen verliefen in zeitgleichen Schüben.

Sinnvoll und nützlich anerkannte Veränderungen wurden bald von allen Hauseigentümern übernommen. Als erstes verschwand der unwirtschaftliche offene Kamin in der Küche. Ein "russischer Schornstein" ermöglichte Herd- und Ofenheizung in mehreren Zimmern. Als nächstes wurden die Stallungen aus dem Haus gewiesen. Kühe, Schweine (seit Bürgermeister Hetkamp auch Ziegen) und das Federvieh zogen in Stallgebäude hinter dem Wohnhau um. Ab 1900 wurden Aborte, die man in Bauzeichnungen zwischen 1850 und 1880 Vergeblich sucht, in den bisherigen Stallungen des Wohngebäudes untergebracht. Die Behörden hatten zu dieser Zeit soviel seuchenpolizeiliche Grundkenntnisse, daß ie einen gewissen Abstand von der baueigenen Wasserversorgung (Brunnen) forderten.

Die letzten, durchgreifenden Veränderungen erfuhren die alten Fachwerkhäuser in den Jahrzehnten nach 1950: Einbau von modernen sanitären Anlagen, Strom, Zentralheizung, Wärmeisolierung. Leider wurde häufig ein bißcben zu gründlich modernisiert. Die schönen, alten Fachwerkwände verschwanden hinter glatten, Iangweiligen Blendfassaden. Handwerklich hervorragend gearbeitete Haustüren und Fenster wurden durch industrielle Fließbandprodukte ersetzt, die sich manchmal o modern, manchmal rustikal geben, aber stets ohne jeden Charakter präsentieren.

Quelle:

Stadtarchiv Sendenhorst 1886

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