März 1945 - ein letztes Gefecht
Es gibt, so sagt man, Geschichten, die das Leben schreibt. Wer hat sie nicht schon erlebt? Diese Geschichten, die sich um ein nachhaltiges Ereignis oder eine schicksalhafte Begegnung ranken. Wir erinnern uns ihrer gern, sei es amüsiert, sei es mit fatalistischer Gelassenheit. Aber gibt es nicht auch Geschichten, die das Leben diktiert? Geschichten von unerbittlicher Konsequenz und brutaler Tragik und noch dazu von Vorgängern so sinn- und verantwortungslos, daß wir sie nicht glauben mögen. Eine solche Geschichte hat sich nicht weit von hier vor nunmehr fast 50 Jahren zugetragen. Burg Gemen bei Borken Mitte Februar 1945. Etwa 400 westfälische Hitlerjungen sind spätnachmittags im Burghof aufmarschiert. Die offizielle Bezeichnung der Einheit: HJ-Bataillon im Freiwilligenregiment Widukind des deutschen Volkssturms. Die meisten freilich hatte nicht ihr freier Wille hierher geführt. Partei- und HJ-Führung hatten sie zum Einsatz im letzten Aufgebot für die Heimatverteidigung kommandiert. Ein Großteil stammte aus dem Kreis Recklinghausen: unter ihnen Recklinghäuser Gymnasiasten, die nicht als Flakhelfer dienstverpflichtet worden waren. Bild: Hof Fels-Greive Gespenstisch erleuchten Fackeln, trotz der Fliegergefahr, die Szenerie. Die Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren sind angetreten, um vom „Reichsvertei- digungskommissar“ Gauleiter Alfred Meyer und dem Führer des HJ-Bann 252 (Vest)" auf eine HJ-Bannfahne vereidigt zu werden. Markige Worte des Gauleiters tönen über den Platz. Die Stimme des mächtigsten Mannes im Gau Westfalen Nord hämmert den Halbwüchsigen ein, was die Partei von ihnen erwartet. Der „anglo-amerikanische Gegner“ (der bereits wenige Kilometer westlich des Rheins steht) sei „mit den Untermenschen der Roten Armee auf eine Stufe“ zu stellen. „Kannst du es ertragen, Kamerad“, so der diabolische Appell Meyers, „daß amerikanische Soldateska in dein elterliches Haus einbricht, daß sie deine Mutter oder Schwester schändet, daß sie deutsche Männer mit Reitpeitschen zusammentreibt und Arbeitssklavenbataillone bildet? Ein unzertrennlicher Block deutscher Menschen wird sich auch hier im Westen dem amerikanischen Gegner entgegenwerfen.“ Das Ganze hatte bewährte Methode. Der Krieg war längst verloren, jedes weitere Blutvergießen unverantwortlich, ja kriminell. Aber mit zynischen Parolen, die zum Standardrepertoire brauner Propaganda gehörten, sucht man im jugendlichen Volksgenossen den Helden zu wecken. Unmittelbar vor der Vereidigung noch hatten die Hitlerjungen den beiden Parteigewaltigen in einem simulierten Gefecht ihre Einsatzbereitschaft demonstrieren müssen. Am 26. März (Gründonnerstag) stehen britische Vorausabteilungen nahe den Stadtgrenzen von Haltern und Dülmen. Partei und Wehrmacht zeigen sich überrascht, verunsichert, zumeist kopflos und auch feige. Zumindest für das Münsterland ist kaum noch ein durchdachtes, konsequent durchzogenes Verteidigungskonzept erkennbar. Besonders die zweite Hälfte der Karwoche ist gekennzeichnet von Ratlosigkeit von Gegenbefehlen und Eigenmächtigkeiten politischer und militärischer Führer, von hektischem Absetzen und Sich-Verdrücken, von Auflösungserscheinungen, von Chaos und Verrohung. Die Agonie des NS-Regimes ist geradezu mit Händen zu greifen. |